Dienstag, 7. März 2006

sentimentales rumlamentieren

der bahn-mann am tisch neben mir hatte sich schön auf eine ruhige bahnfahrt mit kennedys hirn gefreut, jetzt wird er aber überraschend von einem bahn-arbeitskollegen mit "na du alter scheißhund" begrüßt und da kommt noch einer und jetzt muss er mit denen da zu dritt sitzen und ist darüber nicht besonders glücklich. auf dem weg von sylt nach berlin über den hindenburgdamm, vor vier tagen, als ich ankam, hatte ich mich während der überfahrt irgendwie nicht dagegen wehren können, mir ständig ans herz zu fassen, kindheit und schon so lange nicht mehr hier gewesen, und der kampener leuchtturm und so. auf den ersten blick hat sich nicht besonders viel geändert, auf den zweiten ist nichts mehr wie früher hier. unser familien-stammlokal "leuchtfeuer" heißt jetzt "jensens tafelfreuden", das rote kliff ist irgendwie nur noch so furchteinflößend wie ein drei-meter-brett im schwimmbad und "sylvias fantasiepullover" ist einer aquarell-gallerie gewichen, die aber immerhin die offenbar vielseitig kreativ begabte sylvia selbst zu bestücken scheint.

kampen hab ich früher immer noch in schutz genommern, so wie ich jetzt immer mallorca in schutz nehme, ganz wunderbar ist es da eigentlich, aber es ist natürlich nicht ganz wunderbar da, sondern kaum auszuhalten. ralph lauren und cartier und tag-heuer und entsetzt steh ich vor einem unglaublichen, grauenhaften laden, der heißt "röhrender hirsch", untertitel "finest pop-art", und hier kaufen die kampen-urlauber, gelangweilt auch mal irgendwann von cartier und tag-heuer, sich offensichtlich ganz lustige, schrille finest pop-art. selbst feinkost heller, wo damals schon alles sauteuer war und eine dose bockwürstchen nach aussagen meiner eltern 5 mark kostete, ist jetzt ein champagner-fachgeschäft. wo kaufen die leute, die in kampen urlaub machen, nun ihre bockwürstchen? die essen keine bockwürstchen, sagen meine eltern. die essen bei "jörg müller", und da gehen wir abends auch hin, weil alle restaurants, in die wir früher gingen, nicht mehr existieren. dort sitzen langweilige junge ehepaare, sind unsympathisch und langweilen sich, die frauen tragen alle rosafarbene blusen und trinken champagner und die affige kellnerin serviert affige "gruß-aus-der-küche"-kürbis-hummer-mousse mit blablabla-essenz. "hat ihnen unser gruß geschmeckt?" - "ganz ausgezeichnet."

vorbei an finns huk, ein etwas heruntergekommenes haus mit wattblick war das mal, in dem wir jahrelang urlaub machten und in dem es immer ein bisschen nach schimmel roch, immer wenn ich gorgonzola esse, muss ich an urlaub in finns huk denken, weil der so schmeckt wie es da roch. ich fang fast an zu heulen, weil es sich so verändert hat, es sieht aus wie alle anderen häuser hier, neues reetdach, entunkrauteter rasengarten, in den fenstern rosa plastikblumen in weißgoldenen übertöpfen und holzmöwen.
deshalb machen meine eltern jetzt auch nicht mehr urlaub in kampen bei den ganzen schnöseln, sondern in munkmarsch, wo die inselbewohner wohnen. und johannes b. kerner. der hat sich hier letztens ein haus gekauft und man trifft ihn immer beim joggen. armer johannes b. kerner aber, denn die inselbewohner sagen, dass ihn hier keiner mag, dass er sogar ein "blödes arschloch" ist, denn er würde immer schön mit seinem auto auf dem parkplatz dieses restaurants parken, dort aber nie einen fuß reinsetzen, dazu ist er sich nämlich zu fein.

dieses restaurant führt jemand, der vor zehn jahren, als meine schwester und ich alle paar monate auf sylt waren, zu einer crew gestörter, immer betrunkener, technohörender sylter und hatte lange rote haare. jetzt hat er fast keine haare mehr obwohl er ein jahr jünger ist als ich, fährt einen audi kombi, serviert mir seezunge und bratkartoffeln und sagt nö, also er geht nicht mehr groß weg abends, ab und zu in dieunddie bar in westerland, da ist die musik nicht so laut und da trinkt er dann seine 8 bier und nimmt ein taxi nach hause, ganz sutje. meine mutter nickt "kannst du mal sehen" in meine richtung und vertraut mir an, dass sie sich immer vorgestellt hat, ich würde eines tages nach sylt ziehen, ihn heiraten und da mit ihm jetzt dieses wirtsleuteleben führen. ich versenke mich kurz in diesen muttertraum und denke für eine sekunde sogar, ach, warum eigentlich nicht.

ja, das könnte jetzt noch ewig so weitergehen. in ein paar stunden bin ich wieder in berlin, und da ist auch nichts mehr wie es mal war, und in dortmund auch nicht, und in lütgendortmund schon gar nicht, unechte kerzen am weihnachtsbaum und so, und ich habe andere freunde als früher und meine eltern streiten sich öfter als früher und nerven mich mehr als früher und es ist ja auch gut dass sich alles ändert, aber kann nicht vielleicht wenigstens auf sylt einfach alles ein bisschen so bleiben.

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Parka Lewis - 8. Mär, 15:02

Küchengrußmousse hasse ich wie die Pest. Beim letzten Restaurantbesuch mit den Eltern wurde mir auch unaufgefordert so ein Danaergeschenk hingestellt. Drei oder vier bemitleidenswerte Schalentiere, bedeckt mit fischigem rosa Schaum. Fürchterlich. Man könnte ja vorher mal fragen, ob der Gast den Scheiß überhaupt haben will.

giles - 9. Mär, 00:09

von eben diesem küchengruß erzählten mir die eltern, als der kürbismoussegruß gereicht wurde. in den höchsten tönen wurde der gelobt und bedauern darüber zum ausduck gebracht, dass du da einmal kurz einen löffel von genommen und dann aber gesagt hättest, nein, also das kann ich einfach nicht essen.
Paulaline - 31. Jul, 21:09

eben diesen "Gruß aus der Küche" habe ich zu Lehrzeiten in eben diesem Restaurant servieren müssen dürfen.... Ja, manche Dinge ändern sich nie. Ich muss Dir, als auf der Insel Lebende, aber sagen, daß Du in den meisten Dingen (leider) völlig Recht hast.
tauben - 13. Mär, 14:24

*schluchz*

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