A.: "Wir haben ja viele Ratten in Hameln."
Paris ist leer. Man fährt hier kollektiv in Urlaub und überlässt die Stadt den Touristen. G., bei der wir wohnen, sagt uns: "Bringt Croissants vom Flughafen mit, in der Stadt hat kein einziger Bäcker auf!" Wir glauben das nicht und lassens gerne drauf ankommen. Stimmt aber fast.
Verzweifelte Touristen fragen andere verzweifelte Touristen nach dem Weg. Man versteht weder Frage noch Antwort.
Verhungert sind wir trotz allem nicht.
Kaum habe ich den Bahnhof betreten, sehe ich diesen bulligen, hünenhaften Mann mit dem New-York-T-Shirt. Und keinen Moment später steht er vor mir: "Entschuldigen Sie, kann ich mich mit Ihnen verabreden?" Irritiert sehe ich ihn an, bin überfordert und sage nichts besseres als: "Das ist mir jetzt zu krass." Und gehe weiter. Da aber der Bahnsteig gleich aufhört, muss ich mich fast direkt neben ihn stellen. Er lacht über meine Antwort, guckt zu mir rüber, und ich muss natürlich auch lachen (man nennt mich zu Unrecht Poker-face). Darüber, dass wir jetzt nebeneinander stehen müssen, über seine Frage und dass er über meine Antwort lacht. Da kommt er noch mal rüber und sagt: "Ein zweiter Versuch. Und?" (Erinnert mich an Puschel, das Eichhorn, der in der letzten Folge seine Angebetete Sue dreimal stoisch fragt, ob sie ihn heiratet. Sie sagt zweimal monoton nein, beim dritten Mal aber ja. So sind wir Frauen!)
Im Zug setzt er sich neben mich. Und ich frag ihn aus. Er lebt von Hartz IV und war "länger im Ausland". Aha, in welchem Ausland denn? In Russland. Was haste da gemacht. War im Knast. Ein Jahr, sieben Monate und einen Tag. Ups.
Sowas erfindet man nicht, um Frauen kennenzulernen. Oder? Er erzählt viele schreckliche Dinge bis ins Detail. Unappetitliche, unglaubliche Dinge. Es quillt aus ihm heraus, sieben Stationen lang. Er ist zutraulich und ich sitze da mit offenem Mund. Er erzählt es alles ruhig, ist gelassen, obwohl ihn das, was ihm da passiert ist, leicht hätte umbringen können. Mich hätte es bestimmt umgebracht. Er sagt, sie haben ihn unberechtigt eingesperrt. Aber das sagt wohl jeder Knacki. Gefängnis hier sei Sanatorium, meint er. Da gehts nur um die Zeit. Dort ist es auch die Zeit, aber vor allem sind es die Bedingungen.
Er meint, dort lernt man, sein Leben zu lieben. "Und ich weiß jetzt, dass Gott mich liebt." Ziemlich fasziniert kann ich nicht aufhören, Fragen zu stellen. Warum er gesessen hat, hat er mir nicht gesagt. Tja, ich hab ja seine Telefonnummer. Soll ich ihn anrufen?